Ganz schön schräg! – Wider die Tyrannei des rechten Winkels
Spätestens bei der Planung des Innenausbaus stoßen bei der Sanierung von Altbauten vermeintlich unvereinbare Prinzipien aufeinander. Es geht hier um die Tyrannei des rechten Winkels und des Postulats horizontaler Fußböden und Decken bzw. vertikaler Wände, die einen wesentlichen Standard moderner Architektur und zeitgenössischer Wohnkultur markieren. Auf diesen Standard ausgerichtet sind sämtliche industriell gefertigten Bauteile und Möbel sowie die Ausbildungsgänge der üblichen Gewerke. – Das ist sinnvoll, erleichtert es doch die industrielle Fertigung und die Konfektionierung handwerklicher Arbeit. Beides sind Meilensteine auf dem Weg zur Verbesserung der Wohnsituation für eine Vielzahl von Menschen, weil durch die verhältnismäßig preisgünstige Massenfertigung von Baumaterialien und normierten Bauteilen seit dem späten 19. Jahrhundert eine Demokratisierung menschenwürdiger Wohnverhältnisse möglich geworden ist.
Neben dem Schiefen Turm von Pisa ist das Alte Rentamt in Gemmingen ein perfektes Anschauungsobjekt für das Wirken verborgener Kräfte, das Planung und Ausführung von Sanierungsmaßnahmen erheblich verkompliziert, weil die Verformungen hier ein Ausmaß erreicht haben, das sich mit kosmetischen Maßnahmen nicht mehr kaschieren lässt.
Beispielhaft seien hier Wände und Fußböden genannt. Durch den nachträglichen einseitigen Anbau und die dadurch aufgelöste Dachsymmetrie drückte die Außenwand nach außen und die Geschossdecken senkten sich entsprechend einseitig ab. Die Schornsteine wiederum drückten dadurch aufs Gewölbe, so dass die Decken und Fußböden sich von den Außenwänden zu den in der ehemaligen Gebäudemitte durch den First geführten Schornsteinen hin ebenfalls absenkten. Dies führt dazu, dass sich in den großen Räumen des Rentamts vor allem im Obergeschoss Böden und Decken teilweise um mehr als 10 cm gegenüber der Horizontalen verschieben. Auswirkungen hatten diese Kräfte ebenfalls auf Innen- und Außenwände, so dass hier die Vertikale ebenfalls ein Ausnahmephänomen darstellt.
Ältere Bauwerke werden modernen Standards meistens nicht gerecht. Zwar sind die Vorläufer von Wasserwaage und Winkelmessern schon seit der Antike bekannt, aber das mit der Genauigkeit der Messinstrumente und der Präzision ihrer Anwendung war halt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein so eine Sache …
Außerdem nützt die größte Präzision beim Vermessen und Ausrichten eines Bauwerks nichts, wenn der Baugrund weniger stabil ist als angenommen oder bauliche Veränderungen das Bauwerk destabilisieren und sich im Lauf von Jahrzehnten und Jahrhunderten Verformungen ergeben, die auf Bewegungen des Untergrunds oder Veränderungen der statischen Eigenschaften zurückzuführen sind.
Es gibt verschiedene Wege mit diesem Phänomen umzugehen. Gängige Praxis ist es, diese Abweichungen von der Norm hinter Trockenbauarbeiten zu verstecken. Vorteile dieses Vorgehens sind die Möglichkeiten, Strom- und Wasserleitungen ohne Aufstemmen der Wände unsichtbar zu verlegen. Außerdem bilden die so hergestellten rechtwinkligen Räume eine ideale Voraussetzung, um weitere Baustoffe modernen Standards zu verbauen. Allzu oft bleiben dabei aber die historischen Zeugnisse längst vergangener Handwerkskunst, die den eigentlichen Wert eines Baudenkmals ausmachen, auf der Strecke.
Wir haben im Rentamt einen anderen Weg gewählt und die Verformungen und Beschädigungen, die ja ebenfalls zur Geschichte des Hauses gehören, bewusst in die Sanierungsmaßnahmen integriert und überwiegend sichtbar gehalten. Dies führt an verschiedenen Stellen zu teilweise recht abrupten Übergängen zwischen historischer Bausubstanz und modernen Ergänzungen. Das zeigt sich vor allem im Bereich der Decken zum Dachgeschoss, wo zahlreiche Teile der Balkenlage wegen verfaulter Balkenköpfe unter Aufgabe der historischen Decken erneuert werden mussten.
Aber auch Böden, Türen und Fenster zeugen von den Fähigkeiten längst vergangener Handwerks- und Baukunst, die sich eben nicht in Abriss und Neubau, sondern in der Erhaltung und Ergänzung der vorhandenen Substanz verwirklichte. Nachhaltigkeit ist somit kein neues Phänomen, sondern letztlich die Wiederentdeckung einer im Industriezeitalter verloren gegangenen Haltung den Dingen und der Umwelt gegenüber.
Diese Haltung ist nicht nur Attitude, sondern – wenn man sich denn um ihre konkrete Ausgestaltung kümmert – eine echte Herausforderung für alle Beteiligten. Ergänzungen im Bestandsbau sind immer schwierig durchzusetzen, da sie zumeist teurer als komplette Erneuerungen sind und sich mit den oben genannten Prinzipen der Orthogonalität und Makellosigkeit von Oberflächen nicht immer vertragen.